Ein Tag in der Werft Tullio Abbate: Eine Reise durch die Geschichte der Nautik

Ein Tag in der Werft Tullio Abbate: Eine Reise durch die Geschichte der Nautik

Ein Tag in der Werft Tullio Abbate: Eine Reise durch die Geschichte der Nautik

Motorboot

13/06/2025 - 09:59

Es gibt Orte, Namen, Menschen… Moment, das klingt fast wie der Beginn von „Stadt, Land, Fluss...“. Besser so: Manchmal begegnet man Stücken Geschichte, die einen tief berühren – vorausgesetzt, man ist für ein bestimmtes Thema begeistert. Und man kehrt mit etwas mehr zurück.

Einen Tag mit Tullio Abbate Jr am Comer See zu verbringen, ist für alle, die die Nautik lieben, wie das Eintauchen in ein Geschichtsbuch – aber eines von der lebendigen, duftenden Sorte: nach Harz, Holz und Benzin. Und schon beim Besuch der beiden Standorte des Unternehmens beginnt die Reise. Nicht nur das Repräsentanzbüro direkt am Wasser in Tremezzina.

Wo alles beginnt: der See, die Straße, die Garage

Hier befinden wir uns am Westufer des Sees, in einer Gemeinde, in der sich Fünf-Sterne-Hotels mit der Dichte des Verkehrs auf der Uferstraße messen können. Nicht die „bürgerliche“ vierspurige Schnellstraße der östlichen Seeseite, sondern die schmale Straße, die in großen Teilen noch dem antiken Verlauf der Via Regina folgt – einst von Mediolanum, dem römischen Mailand, bis nach Chiavenna.

Wer je diesen Weg zwischen Lokalverkehr, Touristen und Reisebussen gefahren ist, kann sich vorstellen, was es bedeutet, hier Boote zu transportieren. Wer es nicht kennt, stelle sich eine belebte Innenstadtstraße zur Rushhour vor. Noch unglaublicher ist es, zu sehen, wo Tullio Abbate senior seinen Produktionssitz für die Arbeit mit GFK einrichten musste.

Leidenschaft ist nicht nur für Verliebte

In den 1960er-Jahren hielt GFK in der Werft Einzug – gegen den Willen von Firmengründer Guido, der seit den 1940er-Jahren Holzboote für Regatten und Freizeit gebaut hatte. Aufgrund kommunaler Vorschriften war die Verarbeitung von Kunststoffen nahe dem See untersagt, sodass man sich in Schignano niederließ – dem besten Kompromiss.

Ein Blick auf Google Maps zeigt, welche Straße die Produktionsstätte mit dem nächstgelegenen Slip verbindet. Während wir dorthin fahren, sage ich zu Tullio Jr.: „Das ist sicher eine Passion – im christlichen Sinne –, jedes Mal mit Booten diese Serpentinen zu fahren.“ Er lächelt halb und sagt: „Stell dir vor, wir haben einmal ein 24-Meter-Boot da runtergebracht…“

14 km in 8 Stunden

Ursprünglich war ein Helikopter-Transport geplant – Aufwand: 30 Minuten. Am Vortag erfuhren sie, dass die Firma keine Genehmigung hatte, über Stromleitungen zu fliegen. Das war lange vor Bertarellis Flügen mit America’s Cup-Booten über die Schweizer Alpen.

Kurzerhand wurde ein Transporter zur Zugmaschine umgebaut, das Boot aufgeladen. Vor dem Konvoi fuhr ein Kran, der an jeder Kurve das Boot von der Lagerung hob, während der Anhänger rangierte, und es dann wieder absetzte.

„Siehst du diese Kirche?“, fragt er und zeigt auf eine kleine Kapelle in einer Haarnadelkurve. „Das Dach links ist neuer – wir mussten einen Teil abtragen, damit der Bug des Boots vorbeikam.“

Die Werft: Werkstatt und Museum

Acht Stunden benötigte der Transport für 14 Kilometer. Die Hallen in Schignano sind nicht nur die Produktionsstätte, wo heute jedes Teil eines Tullio Abbate intern gefertigt wird, sondern auch eine Art Museum mit historischen Stücken aus den über 8.500 gebauten Booten – viele davon für den Rennsport.

Zum Beispiel der „Folgore“: ein 1.300 kg schwerer Katamaran mit 1.000 PS aus einem 8.200-ccm-Lamborghini-Motor, Sieger bei der Centomiglia del Lario 2002 und 2016. Oder die beiden Boote, die mit dem zehnfachen Weltmeister Guido Cappellini entwickelt wurden: das Formula 2 Endurance, vierfacher Sieger der 24 Stunden von Rouen, und das Formula 2 Sprint.

Dank der unmittelbaren Nähe sieht selbst der Laie den Unterschied: das erste „ein Panzer, der 24 Stunden durchhalten muss – schmal und lang“, das zweite „eine Rennmaschine – kurz und breit, für 40-Minuten-Rennen“.

Da ist das „Sun International“, das Aluminiumboot, das Tullio sr. 1985 für Stefano Casiraghis Debüt in der Klasse 1 baute. Da sind die Tullio Abbate Kid-Boote für die Rennfahrerschule – auch Tochter Ginevra steuert eines mit einem 20-PS-Außenborder.

Zu sehen sind auch die wunderschönen Mahagoni-Modelle „Villa d’Este“. Das erste und originale „Senna 42“, gebaut für Ayrton Senna, präsentiert 1995 in Monte Carlo von Vivian Senna, Tullio Sr. und Prinz Albert – dieses Jahr mit zwei BPM-12-Zylinder-Motoren neu ausgestattet, Shuttle beim Concorso d’Eleganza in Villa d’Este. Und dann die Pavia-Venezia-Modelle oder Prototypen wie das Mito 33 mit Wasserstoffantrieb.

Gegenwart: Was die Werft heute macht

Nach dem Tod von Tullio Sr. 2020 übernahm Tullio Jr. das Steuer – mit demselben Wettkampfgeist. Auch er mit einer beeindruckenden Siegesserie (die man besser zeigt als erzählt).

Heute ist die Werft in mehreren Bereichen aktiv:

Individuelle Fertigung: Jedes Boot maßgeschneidert, wie ein Anzug – von der Idee bis zur Probefahrt, mit persönlicher Betreuung durch Tullio Jr.

Rennboote: Geschwindigkeit bleibt Familientradition. Die Boote sind Versuchslabore für neue Technologien.

Spezialprojekte: Einzelstücke, besondere Boote, technische Herausforderungen.

Restaurierungen: Klassiker wiederbeleben, ohne ihre Seele zu verlieren. Wie eine Ferrari-Restaurierung – nur auf dem Wasser.

Maßgeschneiderter Service: Yachtmanagement, Chartervorbereitung und Rundumbetreuung für sorgenfreies Bootserlebnis.

Boote mit Persönlichkeit

Wer einen Tullio Abbate wählt, sucht mehr als ein Boot. Er sucht Ausdruck seines Stils, ein Objekt mit Charakter. Jedes Modell hat eine Seele – und ist einzigartig.

Besonders interessante Projekte der letzten Jahre:

Armonia 28’: Kompakt und elegant – perfekte Ergänzung zur Villa d’Este-Linie. 8,6 Meter, Einmotor, 3D-Modellierung plus Handwerk.

Miss Villa d’Este: Maßanfertigung mit Innen-/Außenbordern für klassische Eleganz „auf meine Weise“.

Mito 33’: Weiterentwicklung der Mito-Linie mit modernem Stil und Technik. Immer anpassbar.

Elite 27’ Hydrogen: Entwickelt mit Inocel, das erste gebrauchsfertige Wasserstoffboot.

Mito 33’ Hybrid: Erstes Hybrid-System mit Seatek.

Offshore 45’: Moderne Interpretation der legendären Senna 42 – jetzt auch mit Außenbordern (eine Lösung, die Tullio Jr. etwas skeptisch sieht, aber der Markt entscheidet).

Nicht nur Boote, sondern Geschichten

Am Ende ist ein Tullio Abbate mehr als ein Objekt. Es ist eine Geschichte, ein Symbol, eine Leidenschaft über drei Generationen.

Und am Comer See – zwischen dunklen Wassern und Jugendstilvillen – erzählen diese Boote weiterhin, mit Eleganz und dem Grollen großvolumiger Motoren, eines der schönsten Kapitel der italienischen und internationalen Nautikgeschichte.

 

Giacomo Giulietti

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